Halo 11-2020
28 | HALOKAZ Fluchterlebnisse des 15-jährigen Horst Reinhold Eine 3-Jahres-Odyssee von Liepnicken nach Machtsum Das Wort„Erlebnis“ wirkt in unserer heutigen reisefreudigen Gesell- schaft wie ein Abenteuer-Highlight, um beispielsweise im Urlaub den Adrenalinhaushalt anzukurbeln oder fremde Länder und Kulturen kennenzulernen. D as, was Gertrud Graen aus Machtsum nachfolgend als handschriftliche „Fluchter- lebnisse“ von ihrem Bruder Horst Reinhold dem Machtsumer Archiv Club übergeben hat, ist alles ande- re als ein erstrebenswertes „Event“. Vor 75 Jahren war das Kriegsende ein Segen für eine geschundene Welt und das besiegte Deutschland musste den Preis für die nationalso- zialistische Gewaltherrschaft zahlen. Nach der Eroberung der deut- schen Ostgebiete 1945 durch die Rote Armee kam es nach Kriegsen- de zu einer umfassenden Neuord- nung. Nicht nur die osteuropäischen Gebietsverluste des ehemaligen Deutschen Reiches waren von den Siegermächten auf der Potsdamer Konferenz beschlossen worden, sondern die damit verbundene gleichzeitig billigend in Kauf ge- nommene Vertreibung entwurzel- te 14 Millionen Menschen aus ihren geliebten Heimatgebieten wie z.B. Ostpreußen, Schlesien, den tsche- chischen Territorien usw. Die folgende chronologische Fluchtgeschichte des 15-jährigen Horst Reinhold, die vor Kriegsende bereits am 21. Januar 1945 begann und erst am 18. April 1948 endete, hat Beate Hartmann vom Archiv Club zusammengefügt und wurde von Hermann Hartmann um einige erklärende Anmerkungen ergänzt. Mutter Berta Reinhold sah sich angesichts der vorrückenden Ro- ten Armee gezwungen, mit ihren 5 Kindern Horst, Gertrud, Erwin, Ur- sula und demerst 1-jährigen Rudi ihr Zuhause in Ostpreußen zu verlassen und in Richtung Westen irgendwo eine sichere, neue, aber unbekannte Bleibe zu finden. Endlich im Jahr 1948 sollte für die nunmehr fünfköpfige Familie in Machtsum nach einer 1177-tägi- gen Reise mit insgesamt 23 Stati- onen ein neues Leben in Frieden und Freiheit beginnen. Der Vater Franz war zu dieser Zeit noch in rus- sischer Gefangenschaft und konnte erst Anfang der 50er Jahre zur Fami- lie zurückkehren. Es war bestimmt kein leichter Anfang fern der gelieb- ten Heimat mit der Zwangseinquar- tierung auf dem Hof und der damit verbundenen geringen Akzeptanz bei der alteingesessenen Dorfbe- völkerung. Die Hoffnung und der Wunsch auf eine Rückkehr in die Heimat Ostpreußen blieb mindestens in der Fluchtgeneration stets erhalten. Im Laufe der Zeit entspannte sich die Situation in der „Neuen Heimat“ und die Familie Reinhold konn- te in eine eigene Wohnung inner- halb des Dorfes umziehen. Wäh- rend die Schwester Gertrud 1952 den Machtsumer Elektriker Franz Graen heiratete, in ihrem neuen Ei- genheim endgültig in Machtsum sesshaft wurde und die Geschwis- ter Ursula und Rudi in und um Hil- desheim Fuß fassten, zog es Horst Reinhold in den 1960er Jahren ins südöstliche Ruhrgebiet nach Witten Horst Reinhold in der Mitte, rechts sein Schwager Franz Graen in den Ortsteil Annen, wo er mit sei- ner Frau und 3 Töchtern lebte und dort 80-jährig im Jahr 2010 verstarb. Seine Schwester Gertrud lebt mitt- lerweile im Altenheim, Schwester Ursula wohnt in Hildesheim, nur der Neffe Jürgen ist heute noch in Machtsum wohnhaft. „Nie wieder Krieg“, das haben wir in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erleben dürfen, aber Flucht und Vertreibung erle- ben wir Tag für Tag in der Welt. Die Rede ist von über 70 Millionen Men- schen, die weltweit auf der Flucht sind, die ihre Heimat durch Krieg, Gewalt oder wirtschaftliche Pers- pektivlosigkeit verlassen oder ver- lassen müssen. Übersicht über die Routen der über 3-jährigen Flucht www.hahnmalermeister.de
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